III. Wie legitimieren Scientologen ihr Glaubensbekenntnis?

Scientologische Schriften enthalten einige Argumente, um L. Ron Hubbards religiöse Lehre der Scientology, die als „angewandte religiöse Philosophie“ bezeichnet wird, zu legitimieren. Eine Lektüre der Argumentation zeigt, dass zwischen Scientology und den Idealen und Praktiken der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft Integration stattfindet.

Die Lehre der Scientology – die nicht als eine offenbarte Moral begriffen wird, sondern als das Ergebnis der richtigen Verwendung der menschlichen Vernunft – nimmt die Ideale und Werte einer liberalen Gesellschaft an: individueller Erfolg, eine Wettbewerbsmoral unter den Einzelpersonen zur Vermeidung unzivilisierten Verhaltens, das Erstarken der wirtschaftlichen Macht sowie Wissenschaft und Technologie, die Verbesserungen im persönlichen Wohlbefinden ermöglichen, Glaube an den kontinuierlichen Fortschritt der Zivilisation, an den Menschen und sein Potential, an die Möglichkeit einer Harmonie zwischen den persönlichen Zielen und denen der gesamten Zivilisation. Vertrauen in diese Ideale wird durch die Natur des Menschen gerechtfertigt: Der Mensch ist gut und infolgedessen strebt er zum Guten, d. h. zum optimalen Überleben. Wenn es ihm nicht gelingt, mehr Stärke zu erlangen oder eine Moral zu praktizieren, die dem Fortschritt der Zivilisation förderlich ist, liegt das daran, dass er unter Aberrationen leidet, die mit Hilfe bestimmter Techniken behoben werden können.

Um es zusammenzufassen: Der Mensch kann zur Allwissenheit und Allmächtigkeit des ursprünglichen geistigen Wesens zurückkehren und eine Menschheit hervorbringen, die der zu Beginn der Welt gleicht. Es handelt sich hier um eine Art regressiver Utopie, die Fortschritt spiritualisiert, indem sie ihn zu einer Pilgerfahrt zu einer Welt vollkommener Menschen macht, die zu einem vergangenen Zeitpunkt bereits einmal existiert hat. Die Lehre der Scientology appelliert an die Verantwortung des Menschen und bietet ihm die Wahl zwischen einer zunehmend unzivilisierten Gesellschaft, sollte keine Änderung eintreten, und einer starken Gesellschaft ohne Krieg oder Gewalt, wenn sich die Menschen einig sind, ihre Aberrationen zu beheben. Wir können daraus ersehen, dass L. Ron Hubbard ein Ethos der persönlichen Verantwortung, einen Weg zu Glück, Effizienz, Wohlstand und persönlicher Entwicklung anbietet, der nicht allzu weit von der Philosophie der Aufklärung entfernt ist, die in unseren hochentwickelten Gesellschaften vorherrschend ist.

Wir können daraus ersehen, dass L. Ron Hubbard ein Ethos der persönlichen Verantwortung, einen Weg zu Glück, Effizienz, Wohlstand und persönlicher Entwicklung ...

Soweit es die Inhalte der westlichen kapitalistischen Gesellschaften betrifft, können wir daher erkennen, wie die Scientology Lehre mit den empirischen Realitäten korrespondiert. Diese Übereinstimmung erstreckt sich auch auf Akquisition und Struktur. Die Methoden der religiösen Ausbildung gleichen den Lernmethoden, die in den meisten Ausbildungssystemen verwendet werden: Lektionen, Kurse und praktische Übungen. Das scientologische Lehrgebäude gleicht dem Wissen, das die Anhänger bereits früher erlangt haben: Die Mitglieder gehen davon aus, dass es vernünftig ist (es wird wie ein wissenschaftlicher Beweis mit Konzepten, Hypothesen und Axiomen vorgelegt) wie auch wissenschaftlich (es besteht eine ausführliche Sammlung von Büchern, in denen L. Ron Hubbards Entdeckungen zusammen mit seinen verschiedenen Experimenten, Fehlern, Schwierigkeiten und Ergebnissen dokumentiert sind). Auch erlaubt das System jeder Person, sich Techniken anzueignen, die sofort anhand klarer Ordnungen untereinander mit vorhersehbaren Resultaten in die Tat umgesetzt werden können. Diese Form der Ausbildung ähnelt der Ausbildung, welche Scientologen in ihrem früheren Schul- oder Universitätssystem erhalten haben.

Viele Scientologen sind Manager, Firmendirektoren, Freiberufler, Sportler und Leute aus der Show-Branche. Sie haben in ihrer Allgemeinbildung gewöhnlich zumindest das Abitur erreicht, oftmals auch eine höhere Stufe. Die gerade beschriebenen Merkmale der Scientology erlauben es den Mitgliedern, sich aufgrund ihrer schon erlangten Bildung hier zu Hause zu fühlen. Dem ist hinzuzufügen, dass Scientology auch in der heutigen Gesellschaft allgegenwärtige Ängste anspricht, wie Gewalt, Kriege, nukleare Bedrohung, Umweltverschmutzung usw.

Auf der anderen Seite wird die Lebenskraft, die zur Erreichung ihrer Ziele erforderlich ist, mit Gott identifiziert. Dieser Umstand verleiht der Bewegung eine spirituelle Legitimation. Während der sonntäglichen Andachten verkündet der Kaplan, dass „der Aufstieg zum Überleben in sich ein Aufstieg zu Gott ist“. Hier finden wir eine nachdrückliche Vision des Göttlichen, die viele verschiedene metaphysische Bewegungen gemeinsam haben.

Zweitens ergibt sich für Scientologen die Legitimation der Scientology aus der Funktionsfähigkeit ihrer Techniken. Scientology bringt vor, dass derjenige, der ihre Ethiktechnologie anwendet und sich nach den Lehren der Scientology richtet, unweigerlich ein besseres Leben, erhöhtes Wohlbefinden und Gesundheit haben wird, wodurch sich Erfolg zeigt. Die Technologie wird durch fehlende positive Ergebnisse nicht diskreditiert. Stattdessen soll sich der Anwender durch offensichtliches Versagen veranlasst sehen, seine eigenen Widerstände, seine Beziehungsprobleme innerhalb der Gesellschaft oder seine falsche Anwendung der Technologie zu prüfen. In jedem Fall sieht er sich zum Durchhalten aufgefordert, da die Scientologen der Auffassung sind, dass es für jedes Problem eine technische Lösung gibt. Scientology funktioniert, wenn sie richtig angewandt wird. Die standardgemäße Technologie kann in Scientology Schriften nachgelesen werden. Die Anwendung der Technologie ist streng standardisiert, und um das gewünschte Ergebnis zu erzielen, muss man nur Schritt für Schritt die Anweisungen befolgen, die man durch die Ausbildung in der Religion lernt. Gewissheit über die Stichhaltigkeit erwächst aus der Erfahrung mit den Techniken.

Scientology bringt vor, dass derjenige, der ihre Ethiktechnologie anwendet und sich nach den Lehren der Scientology richtet, unweigerlich ein besseres Leben, erhöhtes Wohlbefinden und Gesundheit haben wird, wodurch sich Erfolg zeigt.

Erfolg beweist die Legitimation der Technologie und somit auch die der angewandten religiösen Philosophie und der damit einhergehenden spirituellen Vorstellungen.

Wir wollten herausfinden, ob die Legitimation der Scientology, wie sie in den offiziellen Schriften beschrieben wird, die gleiche ist wie die von den Mitgliedern verwendete. Zu diesem Zweck interviewten wir fünfzehn Scientologen. Wir stellten ihnen die Frage, wieso sie glauben, dass Scientology zutreffend ist. Alle interviewten Mitglieder gehörten der Bewegung zwischen fünf und zwanzig Jahre an. Sie waren alle hochausgebildet. Ihre Argumente können in verschiedene Kategorien eingeteilt werden.

III.I. Pragmatische Legitimation

Die befragten Scientologen waren der Auffassung, dass ihr Glaube Gültigkeit besäße, weil er zu klaren Verbesserungen in ihrem Leben geführt und in einigen Fällen ihre Lebensumstände völlig verändert habe. Sie geben an, dass sich ihre Gesundheit verbessert hat und dass ihr Familienleben jetzt harmonischer ist. Sie machen in der Bewegung weiter, weil sie von Anfang an deutliche Ergebnisse festgestellt haben. Für ihre Mitglieder stellt Scientology eine nützliche Religion dar.

III.II. Wahrscheinlichkeit im Glauben

Die persönliche Überprüfung der Stichhaltigkeit scientologischer Prinzipien lässt einen „nicht überprüften“ Bereich zurück. Viele Scientologen geben zu, dass sie nicht alle Lehren L. Ron Hubbards persönlich verifiziert haben und dass noch einige Bereiche hypothetischen Glaubens bestehen.

Der Glaube an Gott wird viel diskutiert. Von einigen wird die Existenz eines Höchsten Wesens nicht bezweifelt. Sie sprechen von einer inneren Überzeugung, von Beweisen für die Existenz Gottes, aufgrund derer sie ihre Differenzen mit dem „Gott der Katholiken“ aus ihrer Kindheit beigelegt haben. Andere wurden während des Auditings mit ihren vergangenen Leben in Berührung gebracht und fanden auf diese Weise den Glauben an ein unendliches Wesen. Zum Beispiel: „Am Anfang war es mir nicht bewusst, aber im Laufe des Auditings wurde mir klar, dass es wirklich eine Achte Dynamik gibt, die unendlich ist und existiert; anfangs hatte ich davon keine Ahnung, aber jetzt weiß ich, dass sie existiert.“ Für die meisten von ihnen muss jedoch Gott (in ihrem Vokabular „die Achte Dynamik“) auf die gleiche Art und Weise verifiziert werden wie alles Übrige. Gleichzeitig sehen sie Gott als eine wahrscheinliche Hypothese: Zum einen gibt es, wenn sie einen Teil von L. Ron Hubbards Lehren überprüft haben, keinen Grund, warum der Rest nicht auch wahr sein sollte. Zum Beispiel: „Ich weiß, es gibt einen Schöpfer aller Dinge des Universums ... Ich glaube, es gibt ein Höchstes Wesen, es ist nur eine Frage der Zeit. Existiert er noch? In dem Stadium, das ich jetzt erreicht habe, habe ich keine Möglichkeit, das zu wissen. Zum Teil ist es Glaube und zum Teil Wissen, denn wenn man 70 % eines Themas selbst verifiziert hat, glaubt man, dass der Rest wahrscheinlich auch wahr ist.“ – Scientologe seit 20 Jahren, Alter 47. Andere wiederum glauben, dass Gott existieren muss, wenn Scientologen auf höheren Stufen Gott gefunden haben.

Gleichzeitig geben sie jedoch zu, dass sie auf einer Suche sind, die für sie vielleicht nicht mit derselben Entdeckung endet. Für viele Scientologen bleibt „die Achte Dynamik“ eine Welt, die persönlich erforscht werden muss, um vollständig an sie glauben zu können. Im Moment warten sie ab. Wahrscheinlich gibt es Gott. Das kann man als einen auf Wahrscheinlichkeit begründeten Glauben bezeichnen.

III.III. Relative Wahrheit

Wo persönliche Erforschung überwiegt, ist Wahrheit immer in Bezug auf das Stadium zu sehen, das der Scientologe auf seinem Entwicklungsweg erreicht hat. Diese Relativität wird durch zwei Wahrheiten illustriert, die einer der Befragten erwähnte: Die Wahrheit, die über Zeit und Worten steht, und die Wahrheit des „Hier und Jetzt“.

III.IV. Relevanz

Scientologen führen auch an, dass ihr Glaube für die Wirklichkeit relevant ist. Einer sprach darüber, sich im Einklang mit der Realität zu befinden, während er doch zugleich zugab, dass er diese Realität selbst geschaffen habe und sie für ihn normal geworden sei. Zum Beispiel war einer von ihnen der Auffassung, dass die Scientology Ethik ausreichend sei, um andere zu verstehen und mit ihnen umzugehen. Eine andere Gläubige gab an, dass sie auf eine befriedigende Methode für soziale Reformen gestoßen sei. Sie sei vor ihrem Beitritt zur Scientology eine militante Sozialistin gewesen. Sie war der Meinung, dass sie in der scientologischen Technologie die Werkzeuge gefunden habe, um „die Gesellschaft gründlich zu reformieren“.

III.V. Der Sinn des Lebens

Die Mitglieder geben an, einen Lebenssinn gefunden zu haben. Einer verglich sich selbst mit einem Matrosen, der bei bewölktem Himmel ohne Orientierungspunkte und ohne Kompass auf dem Meer trieb, bis er eine Karte und alle erforderlichen Navigationsgeräte fand. Die Scientologen glauben, sie haben den Sinn des Lebens und die Richtung gefunden, die sie von nun an einschlagen. Einer von ihnen, der sein Medizinstudium aufgegeben hatte, führte an, dass er in all seinen Bemühungen keinen Sinn gesehen hatte, da ein bequemes „Mittelklassedasein“ nicht viel mit dem gemeinsam hatte, was er als den Sinn des Lebens empfand; er gab an, diesen Sinn in der Scientology gefunden zu haben.

III.VI. Wissenschaftliche Bezugspunkte

In unseren Interviews fanden wir keine Bezugspunkte zu anerkannten Wissenschaften, um als Beweis für die Lehre oder die Technologie der Scientologen zu dienen. Das steht in direktem Kontrast zu:

a) dem Fachwissen, das für Führungskräfte nötig ist (wie oben erwähnt).

b) L. Ron Hubbards Aussage: „Ich muss der Tatsache ins Auge sehen, dass wir an dem Punkt angelangt sind, an dem sich die Wissenschaft und die Religion treffen, und von jetzt an sollten wir uns nicht mehr vormachen, dass wir uns ausschließlich mit Zielen materieller Natur beschäftigen. Wir können die menschliche Seele nicht zum Gegenstand unserer Bemühungen machen, wenn wir uns dieser Tatsache verschließen.“

Wir können deshalb die Hypothese aufstellen, dass

a) Kompatibilität mit den anerkannten Wissenschaften eine offizielle Doktrin ist, die als eine akzeptierte Tatsache betrachtet wird. Nach Meinung der Scientologen muss sie nicht belegt werden. Oder

b) dass die Legitimation des Glaubens eine Frage der persönlichen Erfahrung ist und nicht die Übernahme einer offiziellen Position;

c) dass die scientologische Technologie Wissenschaft ersetzt.

Wir sollten auch zur Kenntnis nehmen, dass sich die Scientology Kirche seit ihren Gründungsjahren verändert hat. Sie bezeichnet sich selbst als eine eigenständige religiöse Bewegung und die Legitimation, welche die Kirche heutzutage anstrebt, befindet sich weniger auf wissenschaftlicher Ebene als früher.

III.VII. Die Bedeutung der scientologischen Technologie

Scientology wird nicht so sehr geglaubt als vielmehr praktiziert. Der Ausspruch „Scientology machen“ wurde mehrere Male verwendet. In einer früheren Interviewreihe zur begrifflichen Bestimmung dessen, was Scientology ist, hoben die Mitglieder bereits die Anwendung der Technologie hervor. Während der jetzigen Reihe von Interviews beruhte die Legitimation auf der Funktionsfähigkeit der Technologie.

Scientology erscheint als eine praktische Religion.

III.VIII. Verweise auf religiöse Tradition

Die Befragten sprachen religiöse Traditionen nur an, um auf deren Unzulänglichkeiten hinzuweisen. Keiner erwähnte eine Verbindung zwischen dem Buddhismus und der Scientology, obwohl sie von L. Ron Hubbard geltend gemacht wird. Er unterstrich deren Gemeinsamkeiten, bedauerte jedoch den Mangel an Effizienz des Buddhismus in der Welt.

Diese Nicht-Erwähnung geht Hand in Hand mit der Nicht-Erwähnung der Wissenschaft. Die Gläubigen streben nicht danach, ihren Glauben durch Bezugnahme auf externe Faktoren zu legitimieren. Das, was sie für sich selbst bewiesen haben, scheint ausreichend zu sein. Sie halten es nicht für nötig, ihren Glauben anderen gegenüber in theologischen Begriffen zu belegen oder sich in eine Tradition religiösen Denkens einzureihen, obwohl L. Ron Hubbard Ähnlichkeiten zwischen Scientology, Buddhismus und verschiedenen alten Weisheitsreligionen aufzeigte.

Die Legitimation der Scientology von einigen ihrer Mitglieder unterscheidet sich ein wenig von offiziellen Dokumenten. Die „Wissenschaft, die sich auf Gewissheit gründet“ ist eher eine „Wissenschaft, die sich auf Gewissheiten gründet“, die nur akzeptiert werden, wenn sie durch persönliche Erfahrungen bestätigt werden. Daraus folgt, dass sich der Glaube auf Wahrscheinlichkeit gründet und relativ zu dem Stadium zu sehen ist, in dem sich das Mitglied auf der spirituellen Skala befindet. Andererseits werden Bekräftigungen der Lehre im Hinblick auf die Technologie der Bewegung akzeptiert. Wir haben es nicht mit einem wahrnehmbaren Beweis der Wahrheit zu tun, der zu einer bestimmten Verhaltensweise führt, wie in Fällen von Bekehrung in Religionen mit einer Erlösungslehre. In derartigen Religionen beten die Gläubigen, weil sie die Glaubensstruktur akzeptieren, die das Gebet empfiehlt. Der Scientologe fügt eine Gewissheit der anderen hinzu, bis er hinreichende Beweise für die Wahrheit erhält. Ein Scientologe sagte mir, dass er es vorzöge, über „kontinuierliche Bekehrung“ zu sprechen.

Es scheint auch, dass ihr Glaube fides efficax ist, da die Gläubigen behaupten, dass sie in der Scientology ein Mittel gefunden haben, die Gesellschaft zu verstehen und sie und die gesamte Welt zu verändern.

IV. Schlussfolgerungen
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