XI.I. Eliminierung kultureller Vorurteile
Bei der Einschätzung neuer religiöser Bewegungen gibt es mehrere ganz bestimmte Schwierigkeiten. Eine besteht darin, dass in den meisten Gesellschaften in Bezug auf Religion die unausgesprochenen Annahmen gelten, die Althergebrachtem und Traditionen eine besondere Bedeutung beimessen. Religiöses Brauchtum und Erscheinungsbild werden oft mit dem ausdrücklichen Hinweis auf Tradition legitimiert. Innovationen in der Religion werden nicht leicht propagiert oder akzeptiert. Ein zweites Problem besteht in der stark normativen Haltung der Orthodoxie (besonders in der jüdisch-christlich-moslemischen Tradition), die Abweichungen ächtet und sie auf eine sehr abschätzige Weise beschreibt („Sekte“, „Kult“, „Nonkonformismus“, „Ketzer“ usw.) Ein drittes Problem wird in den vorhergehenden Abschnitten angedeutet, nämlich, dass es denjenigen, die in der Kultur einer bestimmten Gesellschaft und in einer bestimmten religiösen Tradition aufgewachsen sind, besonders schwerfällt, das Glaubenssystem anderer zu verstehen, sich in ihre religiösen Bestrebungen einzufühlen und die Legitimität ihrer Ausdrucksmittel anzuerkennen. Religiöse Vorstellungen schließen bestimmte kulturelle Vorurteile und eine eingeengte Sichtweise mit ein. Um eine Bewegung wie Scientology zu interpretieren, ist es unabdingbar, dass diese Hindernisse erkannt und überwunden werden. Das bedeutet nicht, dass man gewisse religiöse Vorstellungen als wahr akzeptieren muss, um sie zu verstehen, doch muss ein bestimmter Bezug hergestellt werden, wenn man den Überzeugungen Andersgläubiger den gebührenden Respekt entgegenbringen will.
XI.II. Die bisherige Diskussion
Die bisherige Diskussion ist notwendigerweise sehr weitreichend und hat viele unterschiedliche Themen angesprochen (Vergleiche mit anderen religiösen Bewegungen eingeschlossen) und einen kurzen Überblick über von Scientologen verfasste Schriften sowie von wissenschaftlichen Kommentatoren verfasste Literatur über Scientology gegeben. Die Geschichte, die Lehren, Praktiken, die religiöse Organisation und moralische Tragweite von Scientology wurden kurz begutachtet, wobei besonders die Aspekte berücksichtigt wurden, die bei der hier vorliegenden Bewertung des religiösen Status der Bewegung am meisten zur Debatte stehen. Eine solche Bewertung, in der viele einschlägige Überlegungen vorgebracht wurden, führt zu der Schlussfolgerung, dass Scientology eine Religion ist. Da wir jedoch den Versuch unternommen haben (siehe Abschnitt II.I. oben), abstrakt verallgemeinernd die Merkmale und Funktionen aufzuzeigen, die in religiösen Systemen weitverbreitet und daher mit großer Wahrscheinlichkeit anzutreffen sind, ist es jetzt angemessen, dieses Modell bewusst als Maßstab für den Anspruch der Scientology, eine Religion zu sein, zu verwenden. Zwischen der von Scientology verwendeten Terminologie und den Spezifikationen des Modells bestehen große Abweichungen, doch trifft dies wahrscheinlich zumindest in gewissem Ausmaß für viele – vielleicht sogar alle – religiösen Bewegungen zu. Es sollte jedoch trotzdem möglich sein, unter Berücksichtigung der Allgemeingültigkeit der angewandten abstrakten Konzepte ohne allzu große Schwierigkeiten oder Anlass zu Meinungsverschiedenheiten das Ausmaß zu erkennen, zu dem die Scientology die Erfordernisse der von uns erstellten Liste möglicher Merkmale erfüllt.
XI.III. Scientology im Lichte der Kriterien für eine Religion
Wir vergleichen jetzt die wesentlichen Merkmale von Scientology mit der in Abschnitt II.I. aufgeführten Liste wahrscheinlicher Merkmale und Funktionen einer Religion. Die Punkte, in denen Scientology übereinstimmt, werden als Übereinstimmung bzw. bedingte Übereinstimmung eingestuft, die, wo keine Übereinstimmung vorliegt, als Nicht-Übereinstimmung bzw. bedingte Nicht- Übereinstimmung, und andere Fälle als Unentschieden.
a) Thetans sind eine wirkende Kraft, die die normale sinnliche Wahrnehmung transzendieren. Es ist auch zu vermerken, dass Scientology die Existenz eines Höchsten Wesens bejaht. Übereinstimmung.
b) Scientology postuliert, dass Thetans die natürliche Ordnung geschaffen haben. Übereinstimmung.
c) Thetans bewohnen menschliche Körper, was einen kontinuierlichen Eingriff in die materielle Welt zur Folge hat. Übereinstimmung.
d) Thetans wirkten vor dem Verlauf der menschlichen Geschichte, sollen das physikalische Universum erschaffen haben und bewohnen Körper, um Vergnügen, Identität und ein Spiel zu haben. Dies ist jedoch ein unbestimmter Zweck, und das Höchste Wesen wird in Scientology nicht als Wesen mit bestimmten Zwecken dargestellt. Bedingte Übereinstimmung.
e) Die Aktivitäten von Thetans und die von Menschen sind identisch. Die künftigen Leben des Thetans werden sehr stark davon beeinflusst, inwieweit er sich vom reaktiven Verstand lösen kann. Auch sein gegenwärtiges Leben wird zutiefst davon beeinflusst. Übereinstimmung.
f) Auditing und Ausbildung sind Mittel, durch die ein Individuum sein Schicksal beeinflussen kann, ganz bestimmt in diesem Leben und in den Leben der Körper, die es später bewohnen mag. Übereinstimmung.
g) Rituale als Symbolismus im traditionellen Sinn von Andacht (z. B. katholische Messe) sind in der Scientology, genau wie bei den Quäkern, nur minimal und rudimentär vorhanden, aber sie existieren. Um hier jedoch eine konservative Stellung zu beziehen, betrachten wir diesen Punkt als Unentschieden.
h) Günstig stimmende Handlungen (z. B. Opfer oder Buße) sind bei Scientology nicht vorhanden. Das Individuum strebt nach Weisheit und spiritueller Erleuchtung. Nicht-Übereinstimmung.
i) Äußerungen der Hingabe, des Danks, der Huldigung und des Gehorsams an übernatürliche Kräfte sind praktisch nicht vorhanden, mit Ausnahme der in Scientology vorgeschriebenen Zeremonien für die verschiedenen Lebensabschnitte. Nicht-Übereinstimmung.
j) Obwohl Scientology über eine bestimmte Sprache verfügt, die ein Mittel der Verstärkung von Gruppen-internen Werten darstellt, und die Schriften oder Lehren von L. Ron Hubbard im allgemein gebräuchlichen Sinn des Wortes „heilig“ gehalten werden, kann das nicht als in Übereinstimmung mit der fachlichen Bedeutung des Begriffes „heilig“, nämlich „Dinge an eigens dafür vorgesehenen Orten und tabu“, betrachtet werden. Nicht-Übereinstimmung.
k) Feiern oder kollektive Bußen sind keine ausgeprägten Merkmale von Scientology, doch hat die Bewegung in den letzten Jahren eine Reihe von Gedenktagen festgelegt. Unter anderem werden der Jahrestag von Hubbards Geburt und das Gründungsdatum der International Association of Scientologists gefeiert, und es gibt einen Tag, an dem die Auditoren für ihre Hingabe gefeiert werden. Bedingte Übereinstimmung.
l) Scientologen führen relativ wenige kollektive Rituale durch, doch stellt die Lehre der Bewegung eine umfassende Weltanschauung zur Verfügung und vermittelt ihren Mitgliedern auf diese Weise einen Sinn für Gemeinschaft und gemeinsame Identität. Bedingte Übereinstimmung.
m) Scientology ist keine stark moralistische Religion, doch ist sittliches Verhalten im Laufe der Zeit zu einem wachsenden Anliegen geworden, nachdem die ganze Tragweite ihrer metaphysischen Prämissen erkannt wurde. Seit 1981 wurden die moralischen Erwartungen von Scientologen klar formuliert: Sie ähneln den Zehn Geboten und unterstreichen das bereits seit langem bestehende Anliegen, „Overt-Handlungen“ (schädliche Handlungen) zu reduzieren. Die Lehren über den reaktiven Verstand und die Wiedergeburt beinhalten ethische Ausrichtungen, die denen des Buddhismus ähnlich sind. Übereinstimmung.
n) Scientology legt besonderen Nachdruck auf die Ernsthaftigkeit der Zielsetzung, auf unterstützende Verpflichtung und auf Loyalität gegenüber der Organisation und ihren Mitgliedern. Übereinstimmung.
o) Die Scientology Lehre der Seelenwanderung erfüllt dieses Kriterium voll und ganz. Für den Thetan entspricht der kumulative reaktive Verstand einer Schuld und diese Schuld kann durch die Anwendung der Techniken von Scientology verringert werden. Übereinstimmung.
p) Scientology verfügt über Amtsträger, die vorrangig als „Beichtväter“ (Auditoren) dienen. Einige von ihnen sind ebenfalls Kapläne, die im Wesentlichen Aufgaben der Seelsorge und der Auslegung haben. Auditoren, Kursleiter und Kapläne (eigentlich alle hauptamtlich aktiven Mitglieder) streben danach, die Theorie und Praxis von Scientology vor Verfälschung zu bewahren. In diesem Sinne sind sie Bewahrer. Übereinstimmung.
q) Auditoren, Kursüberwacher und Kapläne werden bezahlt. Übereinstimmung.
r) Scientology verfügt über eine metaphysische Doktrin, die eine Erklärung vom Grund und Zweck des Lebens, eine detaillierte Theorie der menschlichen Psychologie sowie eine Darstellung vom Ursprung und der Funktion des physikalischen Universums bietet. Übereinstimmung.
s) Die Scientology bezieht ihre Legitimität aus einer Art von Offenbarung durch L. Ron Hubbard. Hubbards eigene Quellen erwähnen unter anderem die überlieferte Weisheit des Orients, doch sein Werk soll fast ausschließlich auf seinen Forschungsergebnissen beruhen. Diese Mischung aus Tradition, Charisma und Wissenschaft ist ebenfalls in anderen modernen religiösen Bewegungen zu finden, insbesondere in der Christlichen Wissenschaft. Bedingte Übereinstimmung.
t) Der Anspruch auf die Wahrheit einiger der Scientology Lehren ist empirischen Überprüfungen nicht zugänglich, doch soll die Wirksamkeit von Auditing in der Praxis nachweisbar sein. Die Ziele von Scientology sind jedoch abhängig vom Glauben an die metaphysischen Aspekte der Lehre, selbst wenn behauptet wird, dass die Mittel einer empirischen Überprüfung zugänglich sind. Bedingte Übereinstimmung.
XI.IV. Eine Auswertung des Vergleichs
Die vorstehende, auf der Liste möglicher Religionsmerkmale basierende Bewertung von Scientology ergibt elf Punkte, in denen Übereinstimmung besteht, fünf Punkte, in denen bedingte Übereinstimmung besteht, drei Punkte, in denen Nichtübereinstimmung besteht, und einen Punkt, der unentschieden ist. Man kann natürlich nicht davon ausgehen, dass all diese unterschiedlichen Merkmale und Funktionen einer Religion das gleiche Gewicht haben, und die rein numerische Aufaddierung sollte nicht eine unangemessen mechanische Grundlage für die Bewertung ergeben. Einige der aufgeführten Punkte – z. B. das Vorhandensein bezahlter Spezialisten – sind zwar bei Religionen allgemein üblich, aber nicht darauf beschränkt, und können daher gegenüber anderen Punkten als weniger gewichtig betrachtet werden. In ähnlicher Weise könnte man das bei Religionen übliche günstig stimmende Element als lediglich ein Überbleibsel früherer Muster quasi-magischer Abhängigkeit betrachten, von dem sich die in der jüngeren Vergangenheit gegründeten religiösen Organisationen befreit haben. Während die Mehrzahl traditioneller Religionen die meisten dieser möglichen Merkmale erfüllen würden, würden viele allgemein anerkannte Konfessionen mit einigen von ihnen nicht übereinstimmen. Wir haben dies bei den Quäkern im Hinblick auf die Andacht und bei der Christlichen Wissenschaft im Hinblick auf die Legitimation festgestellt. Bei den Unitariern würden mehrere Punkte nicht zutreffen – Andacht, Beachtung des Heiligen, traditionelle Auffassungen von Sünde und Tugend und vielleicht auch die Bedeutung der metaphysischen Lehre. Weder die Christadelphianer noch die Quäker würden die Kriterien hinsichtlich religiöser Fachleute oder deren Bezahlung erfüllen.
XI.V. Scientologen betrachten ihren Glauben als Religion
Die Anwendung der vorstehenden Liste sollte nicht den Eindruck erwecken, dass die in diesem Gutachten dargelegten Ergebnisse allein von formalen oder abstrakten Gründen abhängen. Die Liste ist eine Grundlage, auf der empirische Beweise – d. h. beobachtetes Verhalten – bewertet werden. Viele Scientologen haben ein sehr stark ausgeprägtes Gefühl religiöser Bindung. Sie betrachten ihre Überzeugungen und Praktiken als Religion, und viele zeigen einen Grad an Einsatzbereitschaft, der über den unter Gläubigen der traditionellen Kirchen üblichen Grad hinausgeht. In dieser Hinsicht verhalten sich viele Scientologen wie die Mitglieder christlicher Sekten, die im Allgemeinen eine intensivere Hingabe an ihre Religion zeigen als die große Mehrheit von Gläubigen in den etablierten Kirchen und Konfessionen. Als Soziologe sehe ich Scientology als ein echtes System religiösen Glaubens und religiöser Praktik, das bei seinen Mitgliedern tiefes und ernsthaftes Engagement hervorruft.
Es steht für mich eindeutig fest, dass Scientology eine bona fide Religion ist und dass sie als solche betrachtet werden sollte.
XI.VI. Kurzer Abriss zum derzeitigen Wandel von Religion
Wir haben festgestellt, dass alle Religionen einen Entwicklungsprozess durchgemacht haben – sie wandeln sich im Lauf der Zeit. Ebenso ist es eine Tatsache, dass Religion per se einem Wandel unterworfen ist. Als ein soziales Produkt übernimmt die Religion viel von der Farbe und dem Charakter der Gesellschaft, in der sie wirkt, und in neueren Bewegungen finden sich charakteristische Merkmale, die in älteren nicht vorhanden waren (zumindest nicht zur Zeit ihrer Entstehung). Heutzutage lassen neue Entwicklungen in der Religion erkennen, dass viel weniger Wert auf eine postulierte objektive Realität „da draußen“ gelegt wird und dass sich das Interesse mehr auf subjektive Erfahrung und psychologisches Wohlbefinden verlagert, d. h. weniger Betonung auf traditionelle Andachtsformen und mehr auf den Erwerb von Gewissheit (was in sich selbst eine Form von Erlösung darstellt) aus anderen Quellen als dem vermeintlichen Trost, der von einem entfernten Erlöser-Gott gewährt wird. Wir können daher erwarten, dass diese Betonung in der Liste, die wir als Modell verwendet haben, offensichtlich wird. Das Modell spiegelt viele Elemente wider, die sich bis heute in der Religion erhalten haben, die sich aber aus althergebrachten Praktiken herleiten lassen. Neuere Religionen – selbst Religionen, die so alt wie die großen protestantischen Konfessionen sind – werden nicht mit all diesen Elementen übereinstimmen: Sie spiegeln die charakteristischen Merkmale des Evolutionsstadiums wider, in dem sie entstanden sind. Wir müssen daher berücksichtigen, dass moderne Bewegungen nicht mit allen Punkten unseres (relativ zeitlosen) Modells übereinstimmen. Unter Berücksichtigung all dieser Gesichtspunkte steht für mich eindeutig fest, dass Scientology eine bona fide Religion ist und dass sie als solche betrachtet werden sollte.
Bryan Ronald Wilson
Februar 1995