XXX. Religion und Moralvorstellungen

Genau wie manche der neuen Religionen das moderne Ethos der Konsumgesellschaft befürwortet haben, wobei sie das Streben nach Glücklichsein in diesem Leben als legitim würdigen, in der Tat als ein lobenswertes Ziel für die Menschheit, so haben sie entsprechend eine veränderte Beziehung zwischen spirituellem Leben und moralischen Vorschriften dargelegt. Dies ist einer der Aspekte der Veränderung in der Religion, mit der die Obrigkeiten und ein Großteil der allgemeinen Öffentlichkeit, die noch immer in der Zeitschleife traditionellen christlichen Moraldenkens gefangen sind, noch vollständig klarkommen müssen. Dennoch muss offensichtlich sein, dass unterschiedliche Religionen sehr unterschiedliche Einstellungen hinsichtlich der Verhaltensregeln aufrechterhalten. Religionen haben hinsichtlich der Eigenschaft der Moralregeln, die sie vorgeschrieben haben, hinsichtlich Nachdruck und Bestimmtheit bezüglich der Vorgaben für deren Anwendung und bei der Strenge der mit ihnen verbundenen Strafmaßnahmen weitgehend variiert. Im orthodoxen Judentum beherrschen Regeln die Details des Rituals und viele Eventualitäten des täglichen Lebens, die zum Beispiel in der christlichen Tradition völlig ungeregelt sind. Im Islam beeinflussen religiöse Regeln diverse Situationen und bieten ein System rechtlicher Regelung für die Gesellschaft; teilweise legen sie soziale Steuerung bei weitem strenger fest, als sie im Christentum angetroffen wird, und teilweise sind sie lockerer. Somit wird der Koran angerufen, um einerseits die heftigen Strafen auszuteilen, die für Straftaten nach dem Gesetz der Sharia verhängt werden, und andererseits Männern relativ leicht zu ermöglichen, sich bis zu vier Frauen zu nehmen, und eine Scheidung leicht erreichbar für sie zu machen.

Der Theravada Buddhismus bietet einen weiteren Gegensatz. Hier gibt es Vorschriften für Mönche, während den Laien ein paar allgemeine Regeln auferlegt werden. Die Pflicht eines buddhistischen Laien besteht darin, nicht zu töten, zu stehlen, zu lügen, keine unrechtmäßigen sexuellen Handlungen zu begehen oder berauschenden Getränke zu sich zu nehmen. Darüber hinaus gab Buddha moralischen Rat bezüglich Aufgaben im Haushalt, dem Verhalten gegenüber Freunden und der Fürsorge für den eigenen Ehepartner, aber dies sind Ermahnungen, die man sozialen Menschenverstand nennen könnte. Der Einzelne wird ermahnt, umsichtig, sparsam, fleißig, fair gegenüber Bediensteten zu sein und sich jene als Freunde auszuwählen, die ihn von Fehlverhalten abhalten und ihn zu richtigem Verhalten anhalten. Solche Tugenden werden jedoch als aufgeklärtes Selbstinteresse auferlegt; sie werden nicht durch eine Vorstellung von Sünde, wie sie im Christentum gesehen wird, übernommen. Die Missachtung dieser Tugenden zieht keine besonderen Strafen nach sich, außer im Sinne des Schaffens eines schlechten Karmas. Die Religion schreibt keine weiteren Strafen vor, und es gibt keine zornige Gottheit. Da Handlungen so erachtet werden, dass sie den Status in einer künftigen Reinkarnation bestimmen, sind gute Taten ratsam, entsprechend dem achtfachen Pfad der Erleuchtung, da sie zu Wiedergeburten unter besseren Umständen führen werden, und mutmaßlich der letztendlichen Transzendenz aller Wiedergeburten und dem Erreichen von Nirwana. Somit wird dem Einzelnen, während der Buddhismus gewiss ethische Werte lehrt, beträchtliche Freiheit in seinem moralischen Verhalten gelassen und er unterliegt weder der moralischen Kritik noch den Drohungen, mit denen die christliche Moralität verstärkt wird. In anderen Gesellschaften stammen Moralvorschriften nicht von expliziten religiösen Wurzeln: Zum Beispiel haben die konfuzianische Ethik und der Kodex der Samurai die moralische Qualität der japanischen Gesellschaft genau so sehr geformt wie die verschiedenen Schulen des Mahayana Buddhismus, die in Japan wirken, oder sogar noch mehr. Man muss den Schluss ziehen, dass es keine normale Beziehung zwischen einem System religiöser Lehre und einem Moralkodex gibt. Die Verbindung von Religion und Moralregeln im Christentum, die Mechanismen, gemäß denen zu moralischem Verhalten ermahnt wird, und die Folgen, die es für die Verletzung seiner Moralregeln vorausbestimmt, bilden ein Muster der Beziehung, aber solch ein Muster ist für andere religiöse Systeme nicht typisch und es kann nicht angenommen werden, wie Mitglieder christlicher Gesellschaften manchmal anzunehmen veranlasst waren, dass es ein notwendiges oder übergeordnetes Modell ist, nach dem andere Systeme zu beurteilen sind.

XXXI. Das moralische Vermächtnis des Christentums
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